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Projektdaten:

  • Titel: Hast Du das wirklich erlebt?
  • Bündnispartner 1: Kreatives Schreiben e.V., Seestraße 98, 13353 Berlin
  • Bündnispartner 2:Satyr Verlag, Berlin, Auerstr. 25, 10249 Berlin
  • Bündnispartner 3: Friedrich-Bödecker-Kreis im Land Berlin e. V., Falckensteinstraße 34, 10997 Berlin
  • Autorenpate: Michael-André Werner, in Berlin geboren, Satiriker, Romancier. Er tritt bei Lesebühnen und Poetry Slams auf und gibt sein Wissen und seine Erfahrung in Schreibwerkstätten an Jugendliche weiter. Romane: »Das Fallen« 2020, »Kopf hoch, sprach der Henker« 2014, »Ansichten eines Klaus« 2012, »Schwarzfahrer« 2003. Auszeichnungen: Walter-Serner-Preis, Reinheimer Satirelöwen, Stipendium der Preußischen Seehandlung.
  • Zeitraum: 08.10.2019 - 10.10.2019
  • Format: Modul 3 (kurzzeitig)
  • Ort: Berlin
  • Bundesland: Berlin
 

Downloads und Presselinks zur Autorenpatenschaft Nr. 157


Über nachfolgende Links können Sie sich Pressemitteilungen anschauen und das Buch mit den Projektergebnissen nach Fertigstellung als PDF runterladen. Zur Ansicht wird ein PDF Reader benötigt.

Download des Buchs (PDF)

Für diese Maßnahme ist auf Grund der kurzen Dauer keine Publikation vorgesehen. Texte und Bilder des Projektes finden Sie weiter unten.

 

Projektbeschreibung

Wenn man eine (selbst erlebte) Geschichte immer und immer wieder erzählt, verändert sie auch allmählich. Aus zwei Feinden, die man besiegt hat, werden 4, dann 10, schließlich 20. Aus 100 Metern, die man gerannt ist, werden 1000. Die Hirnforschung zeigt, dass sich Zeugenaussagen verändern, je öfter sie wiederholt werden. Die Werkstatt soll den Fragen nachgehen: Wie real kann/muss Literatur sein? Wie weit weg vom Ereignis kann/soll/muss sich ein geschriebener Text entfernen? Was ist der Unterschied zwischen einem realen und einem realistischen Text? Soll der Text „wahr“ sein oder „wahrhaftig“ (also eine allgemeingültigere Botschaft transportieren, die vom realen Ereignis lediglich inspiriert ist). Und wie „real“ ist das Ereignis eigentlich noch, über das geschrieben wird, wenn darüber geschrieben wird.

Bei Arbeitsgruppen, in denen schreibende Jugendliche sich gegenseitig ihre Texte vorstellen, fällt oft der Satz: „Das habe ich genauso erlebt“, wenn sie eine mäßig interessante Geschichte vorlesen, die als Ausgangspunkt ein reales, persönliches Ereignis hat. Spannende, interessante Geschichten, die den Leser/die Leserin fesseln und zum weiterlesen verleiten, sind hingegen nur an ein reales Ereignis angelehnt, davon inspiriert. Hier wird bei der Werkstatt gezeigt, wie man eine Geschichte interessant und spannend erzählen kann, ohne dass es gleich reißerisch wird.

 

Bilder

 

Texte der Autorenpatenschaft Nr. 157

Ich bringe Sie zum Fahrstuhl. Ich bin gleich für Sie da.

Ne Schreibwerkstatt für Sehende, kommen Sie denn dort auch klar?

Ziehen Sie sich eigentlich auch alleine an?

Gibt es für euch eigentlich was, was ein Blinder kann?


Warum denkt ihr immer, dass wir Blinden gar nichts können?

Lernt uns doch vielleicht einmal ein Bisschen besser kennen.

Dann kriegt ihr vielleicht mit: Wir haben auch ein Potenzial.

Aber euch ist die Korrektheit doch komplett egal.



Wie kann es denn angeh‘n, dass Sie aufs Gymnasium geh‘n?

Können Sie wirklich eine halbe Stunde steh‘n?

Kommen Sie denn überhaupt mit Leuten klar, die seh‘n?

Diese Fragerei kann einem auf die Nerven geh‘n?

Wollen Sie mal mein Gesicht befühlen?

Wie können Sie in ein Kino geh‘n?

Wie können Sie mit dem Handy spielen?

Die Fragensteller können‘s nicht versteh‘n.

Warum denkt ihr immer, dass wir Blinden gar nichts können?

Lernt uns doch vielleicht einmal ein Bisschen besser kennen.

Dann kriegt ihr vielleicht mit: Wir haben auch ein Potenzial.

Euch ist das alles glaube ich aber komplett egal.



Wenn ihr Blinde ärgern wollt, stellt solcher Fragen viel.

Heutzutage ist das ja ein sehr beliebtes Spiel.

Doch wenn euch Blinde wichtig sind, dann nehmt sie wie sie sind.

Sehend ist nicht sehend und blind ist nicht gleich blind.


Samantha


Roya spricht von Heimat

Roya spricht von Heimat, denn von hier oben können wir sie sehen. Von hier oben aus sehen wir alles, auch wenn wir nach der Heimat immer etwas suchen müssen, wir sehen den Supermarkt am Fuß der Hochhausbauten, die Autos wie Spielzeuge auf dem großen, grauen Asphaltviereck, hinab über die Reihenhaussiedlungen Richtung Bahnstation, wo die Gleise sich wie silberne Schlangen Richtung Osten winden, in der Sommerhitze flimmern; wir sehen das Flachdach unserer Schule, sehen alles, das wir je gesehen haben, die Fahnen und Flutlichter über dem Fußballstadion, alles ist sichtbar, hier, auf dem Dach unserer Welt. Wenn wir die Augen zusammenkneifen, finden wir die Hochspannungsmasten im Westen, wo die Felder beginnen und die Kleingärten, wo die Landschaft aufweicht und ausdünnt, da ist sie schon fast, die Heimat.

An nebligeren Tagen erahnen wir sie immer nur, Roya und ich.

Aber heute ist es heiß und sonnig.

Roya sitzt auf dem Balkon und dreht Zigaretten, während ich Kratzeis auf den Plastikstuhl schmiere. Über uns hat Royas Mutter die Sachen von Royas Bruder aufgehängt, Waschwasser tropft kalt von seinem Galatasaray Istanbul-Trikot direkt in meinen Nacken und ich zucke jedes Mal ein bisschen zusammen, unvermittelt. Roya lacht mich jedes Mal ein bisschen aus.

Dann bietet sie mir eine Selbstgedrehte an und ich lehne ab.

Ich weiß, sie raucht eh nur, weil Tarek raucht und sie einen Grund gesucht hat, in der Pause bei ihm stehen zu können. Einmal habe ich ihr das auch gesagt. Da hat sie aus Wut die Kippe vom Balkon geworfen und der alten Frau Koroma ein Stockwerk tiefer fast die Markise abgefackelt.

Das tat ihr dann Leid.

Aber die Markise wäre eh hässlich, meinte sie, alles wäre hässlich hier, in der Heimat wären sie viel schöner, wäre alles viel schöner, und ich habe genickt.

Sie raucht zu Ende und ich kratze zu Ende und dann reicht sie mir ganz albern die Hand, schon sind wir im Treppenhaus. Auf in die Heimat.

Im Treppenhaus ist es heiß und stickig, es riecht nach Chlor, immer riecht es hier nach Chlor, und manchmal auch nach Qualm, aber den Aufzug nehmen wir immer nur nach oben, nie abwärts, abwärts rutschen wir fast vollständig über die Geländer.

Abstieg ist immer leicht, sagt Roya zwinkernd.

Draußen flirrt und flimmert der Asphalt.

In die Heimat ist es weit aber wir kennen ja den Weg, Roya und ich, sie hakt sich bei mir unter und ich lasse mich ziehen, ich mag es, mich so mitreißen zu lassen.

Um uns herum das, was wir kennen. Die gleichen Bauten und die Straßen und die Gemischtwarenläden, Graffiti-Poeten haben sich an Mülltonnen ausgelassen, kleine Jungs schießen Fußbälle an Häuserecken, hier und da blättert mal der Putz.

Zuhause, aber nicht die Heimat.

Wo die Heimat anfängt, da öffnen sich die Straßen, geht Asphalt in Kopfsteinpflaster über, werden die Laternen niedriger und die Häuser, wird alles älter und jünger, zugleich.

Wo die Heimat anfängt, werden die Gärten grün und die Tore hoch und niemand ist hier auf den Straßen, die Heimat ist ein Museum der schöneren Welt, der guten Welt, die Roya kennt, weil sie in der Grundschule mit einem in die Klasse gegangen ist, der hier wohnt.

Wenn wir die Heimat erreicht haben, stehen wir auf der Straße, Hand in Hand, und schauen.

So war das schon immer.

In der Heimat schauen wir, und denken wir uns eine Welt zusammen, in der wir wir sind, aber unser Zuhause die Heimat.


Laura

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